Anna Solal

adresse aux gémonies

18 03 2022 – 22 04 2022

“The Hanging Man

 

By the roots of my hair some god got hold of me.

I sizzled in his blue volts like a desert prophet.

 

The nights snapped out of sight like a lizard’s eyelid.

A world of bald white days in a shadeless socket.

 

A vulturous boredom pinned me in this tree.

If he were I, he would do what I did.”

 

Ariel, Sylvia Plath (1965)

 

Das Amphitheater gilt als architektonisches Symbol der römischen Antike und Geburtsstätte europäischer Kultur. Das meisterhafte Baukunstwerk versinnbildlicht jedoch auch gesellschaftliche Klassifizierung und die spielerisch-blutige Zurschaustellung von vermeintlich untergeordneten Menschen und Tieren. Die ellipsoide Assemblage setzt sich aus abstrakten Formen, farblichen Strukturen und dekontextualisierten Maschinenbauteilen zu einer rätselhaften Komposition zusammen, die zwischen architektonischem Objekt und strukturierter Collage changiert. Während sich der halbkreisförmige Zuschauerraum sowie die Innenmauern aus Displays und Spiegelteilen alter demolierter Smartphones zusammensetzen, sind die Torbögen durch Portale aus Fahrradketten verschlossen. Um die Torbögen sind numerisch anmutende Zeichen, Buchsstaben und ein Konglomerat von Vornamen zu entdecken. Es sind körper- und identitätslose Namen von verschiedenen Online-Dating-Plattformen wie Tinder und Ok Cupid, die auf die menschliche Anonymität in der digitalen Welt verweisen.

 

Gesellschaftliche Dimensionen bilden die Essenz von Anna Solals künstlerischer Praxis. Das Porträtieren des menschlichen Kollektivs – manchmal sinnbildlich, manchmal figurativ und pointiert – stehen auch im Zentrum ihrer neuen Arbeit Arena (2022). Solal lässt uns die historische Dimension menschlicher Organisationen begreifen, indem sie Orte wie das Amphitheater, verlassene Schlachtfelder, aber auch digitale soziale Plattformen gegenüberstellt. Zwischenmenschliche Interaktionen, aber auch die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt und der damit verbundene ökologische Aspekt spielt eine zentrale Rolle. In früheren Werken durch die Beschäftigung mit Pflanzen- und Tiermotiven verbildlicht, findet die Macht der Ökologie in Arena durch die Visualisierung verschiedener Baumblätter sowie die Verwendung alter, bereits benutzter Gegenstände ihren Ausdruck. Auch in Solals neuer Arbeit Clothes (2022) sehen wir eine Collage aus blumenförmigen Ausschnitten gezeichneter Waffen und Tiere sowie numerischer Buchstaben und eine verwundete griechische Säule.

 

Die französische Künstlerin, die an der L’Ecole Nationale Superieure des Arts Visuels de La

Cambre, Brüssel zunächst Zeichnung und später Bildhauerei studierte, schafft mysteriöse Bricolagen und ein gleichsam ambivalentes Zusammenspiel aus Symbolen, ausgeschnittenen Zeichnungen, verschiedenen Materialitäten und mechanischen wie alltäglichen Fundobjekten, in dessen Oberflächen bereits eine Geschichte eingeschrieben ist. Das Material diktiert stets Form, Struktur und Farbe. Jede Aktion ist ein Kompromiss zwischen künstlerischem Empfinden und vorgegebener Materie. Ihre Arbeiten, die sowohl an der Wand als auch auf dem Boden präsentiert werden können, befinden sich in einem hybriden Zustand zwischen Zeichnung und Skulptur, zwischen Zwei- und Dreidimensionalität.

 

Anna Solals Praxis ist von Philosophie und einem sensuellen intellektuellen Aspekt untermauert, der insbesondere in den Zeichnungen spürbar ist. Er steht in Kontrast zu ihrem Gebrauch mechanischer Industriegegenstände und hebt Solals Gespür für die Konfrontation hervor. Sylvia Plaths lyrische Poesie über die spirituelle wie biologische Metamorphose, Georg Trakls Gedichte über den Rückzug Gottes, oder die sogenannte Marienerscheinung Unserer Lieben Frau von La Salette von 1846, evozieren mystische bis dystopische Fantasien, die vom Untergang der Menschheit sowie von der Hoffnung auf Wunder und Rettung handeln.

 

Im französischen Filmdrama Au Hasard Balthazar von 1966, erzählt der Regisseur Robert Bresson die Lebensgeschichte eines Esels namens Balthasar und des Mädchens Marie. Mensch und Tier werden als gleichwertige Kreaturen dargestellt. Balthasars Leid inmitten von Ausbeutung, Demütigung und Leid, spiegelt sich in der Protagonistin wider. Es ist eine allegorische Passionsgeschichte, der man sich nur schwer entziehen kann. Sie handelt vom Sinn und gleichsam der Last des Lebens, von den Sünden der Menschheit und der Reinheit der Unschuldigen.

 

Das Ende dieser kunstvollen Parabel – Balthasar stirbt letztlich unter den Schlägen der Menschen – bildet den Auftakt einer neuen psychedelischen Erzählung, in der dieser Esel wiedergeboren wird und als Träne durch ein zerstörtes und ausgestorbenes Europa wandert. Nach dem Künstlerbuch L’Enfant Chiffre (2021) ist auch diese Erzählung eine Zusammenarbeit zwischen dem Schriftsteller Olivier Prada und Anna Solal, die seine poetische Prosa durch surreale Tuschzeichnungen und Fotocollagen visuell ergänzt. Reminiszenzen an gesellschaftliche Utopien, das römische Imperium, Faschismus und Umweltkatastrophen reihen sich an kataklysmische Visionen über den europäischen Zusammenbruch. Hier wird erneut die Essenz Anna Solals künstlerischer Praxis deutlich – das menschliche Kollektiv wird hinterfragt. Gleichzeitig meditativ und einer dumpfen Gewalt entlehnt, geht der Zusammenbruch mit dem Entstehen neuer Lebensformen einher. Konkret, intim und fantasievoll, tragen ihre Werke das aufwühlende Rätsel des möglichen Zusammenlebens zwischen Mensch und Natur.

Overview
Credits

Dr. Luisa Seipp (Text)

Dirk Tacke (Fotografie)

Presse

Ausstellungsansichten

Werke

Anna Solal

Arena, 2022

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Anna Solal

Black birds, 2017

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Anna Solal

The sun, 2016

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Anna Solal

Hive Clock, 2019

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Anna Solal

Anonyme, 2020

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Anna Solal

Le secret de Petit Maudit, 2020

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Anna Solal

Pas, 2021

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Anna Solal

Clothes, 2022

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Anna Solal

The twin kite, 2018

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