Simone Lanzenstiel

augenblicklich

26 06 2020 – 21 08 2020

In den malerischen Positionen der Künstlerin Simone Lanzenstiel manifestieren sich ephemere Spuren des öffentlichen Raumes. Es sind vorgefundene Abstraktionen oder Fragmente unserer visuellen Kultur, wie verblasste Graffitis an Mauern, verwitterte Hausfassaden oder vergessene Plakate, die sie aufnimmt und in raumgreifende Malerei transformiert. Bereits im Titel ihrer ersten Einzelausstellung bei Britta Rettberg betont sie den Aspekt der Zeitlichkeit. Es geht um den Zufall, der augenblickliche Veränderungen evoziert, um Strukturen, die nicht auf Dauerhaftigkeit ausgelegt sind, sondern sich verformen, indem sie vergessen werden, zerfallen oder verwittern.

 

Das Verlassen konventioneller Bildräume und das Betonen des Unvorhergesehenen sind in Simone Lanzenstiels Kunst ebenso zentral wie das Verwenden kunstfremder Gestaltungsmittel. Die Künstlerin arbeitet mit gefundenen, auf den ersten Blick wertlosen Materialien, die sie als Bildträger nutzt oder als Akzent setzt. Ihr Augenmerk liegt dabei auf Spiegelscherben, Plastikfolien, Zeitungsfragmenten oder Fundstücken aus ihrem Atelier, die durch den künstlerischen Eingriff erneut Wert erfahren. In ihrer Ausstellung „augenblicklich“ zeigt die in Berlin lebende Künstlerin neue malerische Positionen auf Holzplatten, die sich dem Betrachter durch Aufhängungen an den Rückseiten als vor der Wand schwebende, dreidimensionale Tafelbilder präsentieren. Durch ihre Maserungen formen die Holzplatten den Farbauftrag, ihre Lineaturen werden Teil der Komposition und lassen Bewegung und Dynamik entstehen. Die Traditionen des Abstrakten Expressionismus und des Informel fließen in Simone Lanzenstiels Bildkompositionen mit ein, die in subtiler Gratwanderung zwischen Präzision und bewusst hervorgerufener Zufälligkeit entstehen. Auf dem rauen Bildgrund treffen amorphe Sprühwolken auf feine, grafische Gesten, meist in Ölkreide oder Kohle. Diese scharfen, bewusst gesetzten Kompositionselemente erinnern an beiläufig Notiertes, Gekritzel oder an Graffiti von Hausmauern und wecken Assoziationen an die kalligraphischen Zeichensysteme von Cy Twombly.[1]

 

Mit Skalpellen und Schleifpapieren bricht die Künstlerin die Bildoberfläche auf und setzt tieferliegende Farbschichten hinter der Farboberfläche frei. Durch diese partiellen Einschnitte und Vertiefungen wird die Holzplatte zum Relief, auf dem sich die Einkerbungen als malerische Linien fortsetzen. Dieses bewusste Verletzen des Bildgrundes hinterlässt in Simone Lanzenstiels Kunst beabsichtigte Spuren, in denen die Prozesshaftigkeit verstärkt und Malerei als körperliche Handlung nachvollziehbar wird. Der Schaffensprozess aus Wegnehmen und Hinzufügen gewinnt bildhauerischen Charakter, es entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen Malerei und Plastizität. Die daraus resultierenden Bildebenen lassen an Lucio Fontanas Schnittbilder und dessen Konzept zur Raumkunst denken.

In der Farbigkeit wird der Bezug zum öffentlichen Leben fortgeführt. Das Farbspektrum reicht von Pastellfarben über Signalfarben wie Neon-Orange oder Neon-Pink, die Simone Lanzenstiel als Akzente einsetzt. Grau- und Weißschattierungen und silberne Farbwolken erinnern an abgetragene Hausfassaden.

 

Die Farbe Weiß funktioniert für sie im Vergleich zu früheren Positionen nicht mehr als Nicht-Farbe, um Unstimmigkeiten zu korrigieren, sondern als autonomer Farbton. Erstmalig präsentiert die Künstlerin in dieser Ausstellung völlig in Schwarz gehaltene Arbeiten mit silbrig-schimmernden Bleistiftspuren. Simone Lanzenstiels Arbeiten erzählen weniger von den inhärenten Bedeutungen der Materialien, sondern von deren Konsistenz – ihrer Fragilität und Vergänglichkeit, durch die sich abstrakte Strukturen formen. Durch subtile Bilddetails, wie beispielsweise ein Stück Klebeband oder Zeitungsfragmente verlässt die Malerei ihre Rahmung und breitet sich in das Raumvolumen aus. Es entstehen expansive, fragile Bildräume, die durch minimale Raumeingriffe ihre Singularitäten überwinden und sich bei Britta Rettberg als architektonisches Gesamtkonzept präsentieren. Dafür reicht meist schon eine gesprühte Linie als Akzent an der Wand oder eine bemalte Holzlatte, die den Raum schneidet und die Wahrnehmung des Ausstellungsdisplays verändert. Die Grenzen zwischen Decke und Boden werden hinterfragt und durch Spiegelscherben erweitert. Es entstehen begehbare Narrationen, die sich dem Betrachter erst sukzessive erschließen, indem er seine Blickpositionen verändert, abwartet, beobachtet.

[1] Der französische Philosoph Roland Barthes schrieb über das Verhältnis von Bildträger und Einschreibung:
„[…] Es ist bekannt, dass das, was die Graffiti ausmacht, nicht eigentlich die Inschrift ist, auch nicht ihre Botschaft, es ist die Mauer, der Hintergrund, die Tafel; weil der Grund voll existiert, wie ein Gegenstand der schon gelebt hat, kommt ihm die Schrift immer wie eine rätselhafte Zugabe hinzu: das, was überflüssig ist, überzählig, ortlos, das stört die Ordnung;  […]“, vgl. Barthes, Roland, „Cy Twombly“,
Merve Verlag, Berlin, 1983, S. 22.

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Credits

Velimir Milenković (Fotos)

 

 

 

Ausstellungsansichten