Die Vergangenheit, die Gegenwart und – paradoxerweise – die Zukunft können das Werk von Künstler*innen durchaus beeinflussen. Caro Jost (München) und Olga Migliaressi-Phoca (Athen) streifen wie Kultursoziologinnen auf der Jagd durch ihre Umgebung und schaffen kühne Aussagen über die Gesellschaft als Ganzes. Der öffentliche Raum dient als Aktionsfeld und Inspirationsquelle, die Gesellschaft als Kulisse. Indem sich die Künstlerinnen gefundene Gegenstände, Texte und alltägliche Themen, die ihnen überall begegnen, aneignen, vermitteln sie Studien unseres sozialen und kulturellen Milieus durch subtile und gleichzeitig aussagekräftige Manifestationen.
Caro Josts Arbeiten sind durch die Vergangenheit geprägt und dokumentieren Zeit, Raum und Erinnerungen – im Grunde das Vergängliche – und übertragen sie in einen zeitgenössischen Kontext. Die Grundlage ihrer Arbeit liegt in der systematischen Recherche und Archivierung, was sie zum Teil ihrem Hintergrund als studierte Juristin verdankt. Mit der Gründlichkeit einer Ermittlerin untersucht Jost den sie umgebenden Raum, identifiziert ihre Objekte und bewahrt sie mit Geduld und Sorgfalt in einem Archiv auf, das sie über die Jahre hinweg akribisch aufgebaut hat. In Josts Schatzkammer, einer Art Kuriositätenkabinett, bewahrt sie die Gegenstände auf, die sie sich später aneignet und zu eindrucksvollen Kunstwerken von gesellschaftlicher Relevanz verarbeitet.
Ihre Faszination für die Geschichten, die selbst die banalsten Gegenstände in sich tragen, veranlasste Jost dazu, die ehemaligen Ateliers der Maler*innen des Abstrakten Expressionismus zu erkunden, die in den 1950er und 1960er Jahren aktiv waren und zu denen Jost eine besondere Affinität hat. Als Nebenprodukt dieser Recherche, bei der Material wie persönliche Dokumente, Rechnungen und Skizzen gesammelt wurden, sowie als Teil der fortlaufenden Serie „Invoice Paintings“ bestehen die Notes A.R. (2017, 2020) aus Ausdrucken handschriftlicher Notizen des Künstlers Ad Reinhardt. Die Notizen, die an ein ausgefülltes Kreuzworträtsel erinnern, waren essenziell für die Entstehung von Reinhardts berühmten, scheinbar monochromen „Black Paintings“ (1954-1967). Indem sie sich die Fundstücke auf der Leinwand aneignet, gelingt es Jost, sie zu monumentalisieren, die Vergangenheit zu verewigen und uns einen Blick in die Geschichte zu gewähren. So wie Reinhardts „Black Paintings“ durch das Auftragen von Farbschichten entstanden sind, sind auch die Notes A.R. teilweise mit kräftigen Farbstrichen überzogen.
Josts Arbeit beschränkt sich nicht auf die Verwendung greifbarer Fundstücke und Marginalien. Vielmehr hat ihr Interesse an der Macht der Worte sie dazu veranlasst, Auszüge aus Zeitschriften, Essays, Zeitungsüberschriften und sogar Gesprächsfetzen, die sie auf der Straße aufgeschnappt hat, zu verwenden. Diese Textfragmente, die Zeugnisse einer bestimmten Epoche und eines bestimmten Zeitgeistes sind, werden aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst und bilden die Grundlage für Werke wie Me, Myself and You (2023). Einmal auf die Leinwand übertragen, werden bestimmte Wörter des ausgewählten Textes übermalt und mit dicken Linien verdeckt. Die ursprüngliche Botschaft des Textes wird auf diese Weise dekonstruiert und macht Platz für neue Schlagworte, die für die Gegenwart von gesellschaftlicher Relevanz sind. Die so entstandenen Werke sind Chroniken der Vergangenheit und bieten gleichzeitig Reflexionen und Kommentare zur Gegenwart.
Snakes & Ladders beinhaltet auch die jüngste Werkserie von Caro Jost, die sogenannten „Heartbeat Paintings“. Diese autobiografischen Arbeiten, die das Öffentliche mit dem Persönlichen und die Vergangenheit mit der Gegenwart verweben, zitieren Josts eigene Herzschlagdiagramme, die entweder überlagert oder frei auf die Leinwand gemalt werden. Mit Text versehen und in einigen Fällen mit Farbe überzogen, werden Werke wie Time Beats Time (2023) und All Inclusive (2023) zu Mitteln der öffentlichen Selbstreflexion und Introspektion. Gleichzeitig fangen sie als Aufzeichnungen von Josts Pulsschlag, die Vergänglichkeit von Zeit und Narrativen ein, was sie auf rätselhafte Weise zeitlos macht.
Die systematische Recherche, die Josts künstlerische Methodik kennzeichnet, geht über die Suche nach Motiven hinaus und erstreckt sich auf die innovativen Techniken, die sie in ihrer Praxis einsetzt, mit denen sie unermüdlich experimentiert und die sie im Lauf der Zeit entwickelt hat. Josts Werk ist zwar in der Tradition der Malerei und der Collage verankert, aber die Techniken, auf die sie zurückgreift, bringen Werke mit vielschichtigen Kompositionen und zwangsläufig auch vielschichtigen Botschaften hervor. Die mit Harz überzogen Arbeiten brechen aus der Zweidimensionalität der Malerei aus und werden zu Reliefbildern mit strukturierten Formationen. Die für Josts Werke charakteristischen Faltungen verleihen diesen ein Gefühl der Bewegung und lassen sie fast fließend erscheinen, wie die Zeit selbst.
Während Caro Jost in die Vergangenheit blickt, untersucht Olga Migliaressi-Phoca die Gegenwart. Ihr Werk ist von einer Pop-Ästhetik geprägt, bei der sofort erkennbare Zeichen und Symbole angeeignet und mit einer Prise Ironie und Sarkasmus versehen neu präsentiert werden. Auf scharfsinnige Weise manipuliert Migliaressi-Phoca das Vertraute, um dringliche Themen anzusprechen und gesellschaftliche Vorstellungen in Frage zu stellen, die oft als Tabus gelten. Migliaressi-Phoca nimmt die Konsumkultur unter die Lupe und spielt mit Worten, indem sie ikonische Logos beliebter Marken aufgreift und sie als skurrile, zum Nachdenken anregende Anagramme wieder einführt.
Die in Snakes & Ladders gezeigten Arbeiten von Migliaressi-Phoca berühren Fragen der (Un-)Gleichheit der Geschlechter und untersuchen die Stellung der Frau in der heutigen Gesellschaft. Zwei große Spiegelarbeiten, die Titelseiten des fiktiven Magazins Vague darstellen, werfen einen Blick in die Zukunft und stellen die Frage, wie derartige geschlechtsspezifische Thematiken in den kommenden Jahren wahrgenommen und ob sie immer noch ein Anlass zur Diskussion oder eine Angelegenheit der Vergangenheit sein werden. Als Teil der fortlaufenden Serie „The Future Is Vague“ gehen die Titelstories noch einen Schritt weiter und feiern den hundertsten Jahrestag zweier bahnbrechender Ereignisse: die Gewährung des Wahlrechts für alle Frauen in Griechenland 1952 und die Verabschiedung des Voting Right Act im Jahr 1965, durch den die Rechte der Frauen in den USA verstärkt wurden. Aber werden wir in Zukunft wirklich in der Lage sein, solche historischen Fortschritte auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter zu würdigen? Oder könnten die unvollendeten Tic-Tac-Toe und Hangman Spiele, die auf dem Cover von Vague zu sehen sind, vorausschauende Indikatoren darstellen, die auf die Unbestimmtheit und Ungewissheit hinweisen, welche vor uns liegen, wenn es um Geschlechterkonflikte geht?
Der Spiegel, sowohl als Motiv als auch als Medium, ist seit der klassischen Antike mit Bedeutung aufgeladen und gilt als Vehikel für Selbstwahrnehmung. Migliaressi-Phoca nutzt den Spiegel als Leinwand, manipuliert und „vandalisiert“ seine Oberfläche mit Radierungen, um fesselnde Narrative zu schaffen. Die reflektierende Oberfläche des Spiegels, von der man glaubt, dass sie Wahrheiten offenbart und bewahrt, schafft es, die Betrachtenden ins Rampenlicht zu rücken und durch die Infragestellung ihrer Perspektive dazu zu ermutigen, die eigene Haltung zur Politik der Geschlechtergleichstellung zu überdenken und sich aktiv am Dialog zu beteiligen. Migliaressi-Phocas Werk, das Malerei, Skulptur, Collage und Installation verbindet, fördert Interaktion und lenkt als Katalysator für den kulturellen Wandel die Aufmerksamkeit der Besucher*innen auf Fragen über Geschlecht und Identität.
Als Erweiterung zu „The Future is Vague“ stellt Migliaressi-Phoca die Serie „Vague – Beauty“ vor. Diese erstmals präsentierten kleineren Spiegelbilder erforschen die unterschiedlichen Schönheitsstandards der Welt und stellen einen Kommentar auf die Erwartungen der Gesellschaft an Frauen und die belastenden, oft unrealistischen und unerreichbaren Stereotypen dar, denen sie entsprechen „müssen“. In Anlehnung an das Genre der Porträtmalerei zeigt Migliaressi-Phoca stilisierte Darstellungen von Körperteilen, die sich durch eine kindliche Einfachheit in ihrer Ausführung auszeichnen. Die konzeptuellen Darstellungen auf den Titelseiten der Vague Beauty-Ausgaben wirken auf den ersten Blick unscheinbar, sind aber in Wirklichkeit mutige, kritische Lesarten von Geschlechteridentität. Auch das wahrscheinlich konfrontativste Werk in der Ausstellung, Get the Hell Out (2020), konvertiert das allgemein erkennbare EXIT-Zeichen, wie es in öffentlichen Gebäuden zu finden ist, in ein deutliches Statement gegen Geschlechtervorurteile. Strategisch in Richtung des nächstgelegenen Ausgangs platziert, weist das SEXIST-Schild Personen mit bigotten Einstellungen beharrlich den Weg nach draußen.
Snakes & Ladders ist die erste gemeinsame Präsentation der Arbeiten von Caro Jost und Olga Migliaressi-Phoca. Obwohl sie mit unterschiedlichen Medien arbeiten, ergänzen sich ihre Arbeiten in der Reflexion und Kommentierung von Themen mit gesellschaftlicher und persönlicher Bedeutung. Jost und Migliaressi-Phoca schaffen mit spielerischer Leichtigkeit und ihrer persönlichen, unverwechselbaren Handschrift Werke, die von kultureller Resonanz geprägt sind.
Regina Alivisatos erhielt ihren BA in Kunstgeschichte von der Tufts University in Boston und ihren MA in Kunstwirtschaft vom Sotheby’s Institute of Art in London. Seit 2007 arbeitet sie bei der DESTE Foundation for Contemporary Art in Athen. Zuvor war sie in der Kunstabteilung der Deutschen Bank in London tätig.