
Im Rahmen von Various Others 2024 präsentiert Britta Rettberg eine gemeinsame Ausstellung von Lennart Lahuis und Paul Valentin in Zusammenarbeit mit Dürst Britt & Mayhew, Den Haag.
In der Archäologie werden vergangene Zivilisationen anhand materieller Überreste untersucht. Die sorgsam geborgenen Funde werden vermessen, kartiert und dokumentiert. Das Ziel dieser wissenschaftlichen Betrachtung ist es, ein umfassendes Bild vergangener Kulturen zu rekonstruieren und zu verstehen, wie diese zur Entwicklung der heutigen Gesellschaft beigetragen haben. Doch was passiert, wenn die Funde sich nicht einordnen lassen und aus der Zeit gefallen scheinen? Der niederländische Künstler Lennart Lahuis und der Münchner Künstler Paul Valentin gehen in ihrer ersten gemeinsamen Ausstellung „Solid Currents“ Fragen von Zeitlichkeit nach und untersuchen dabei die Rekontextualisierung von Gegenständen.
Die in der Galerie versammelten Arbeiten setzen sich aus Gegenständen zusammen, die unter dem erweiterten archäologischen Begriff der Spolie betrachtet werden können. Der Begriff leitet sich vom lateinischen Wort „spolia“ ab, das ursprünglich „Beutestücke“ oder „erbeutete Gegenstände“ bedeutet. Die Objekte wurden hierbei jedoch nicht von anderen Personen, sondern aus bestehenden kulturellen Sinnzusammenhängen erbeutet. Die Spolien werden ihrer ursprünglichen Funktion enthoben und als Teil eines Kunstwerkes reinkarniert. Die Galerieräume erinnern an eine archäologische Stätte, gefüllt mit materiellen und medialen Artefakten, deren Betrachtung den Blick für ökologische, gesellschaftliche und philosophische Konflikte der Jetztzeit schärft.
Lückenhafte, kurze poetische Sätze ziehen sich wie ein leises Murmeln durch die Räume der Galerie. Lennart Lahuis Werkserie “MURMUR” setzt sich aus Fragmenten eines in Ton gedruckten Textes zusammen. Der ursprüngliche Inhalt der Inschrift ist nur noch schwer zu erkennen, die Ränder bröckeln und Risse durchziehen die Bruchstücke aus Ton, die wie Fundstücke einer Ausgrabung in den Räumlichkeiten aufgebahrt werden. Zu entziffern sind Wörter wie: “erosion”, “catastrophic” oder “flood”. Die sorgsam platzierten Objekte erscheinen geprägt vom Zahn der Zeit, jedoch verwundert die vertraute Typographie der Wörter und auch die Ansätze einer Internetadresse sind im Ton zu erkennen. Entgegen dem ersten Eindruck sind die Tonfragmente also in der Jetztzeit zu verorten. Lahuis spielt mit der Zeitlichkeit von Objekten sowie der Fragilität von Informationen, welche bereits langsam vor den Augen der Besucher:innen erodieren. Die mit speziellem, britischem Weald-Ton hergestellten Schriftstücke sind mit der adaptierten Version einer Typografie bedruckt, welche hauptsächlich für wissenschaftliche Veröffentlichungen verwendet wird. Und dieser Eindruck täuscht nicht, denn zu sehen ist kein historischer Text, sondern Bruchstücke einer wissenschaftlichen Publikation aus dem Jahr 2017, die den Erosionsprozess beschreibt, der im Laufe von Tausenden von Jahren das Vereinigte Königreich geologisch vom europäischen Festland trennte.
Während die in Ton gedruckten Textfragmente wirken, als hätten sie bereits Jahrhunderte überdauert, verfliegen die ephemeren Worte der Werkserie „When Is It That We Feel Change In the Air“ innerhalb weniger Sekunden. Interessiert an elementaren Fragestellungen und physikalischen Eigenschaften, gelingt es Lennart Lahuis, Unsichtbares sichtbar zu machen. Kurze Satzteile steigen visualisiert durch Wasserdampf wie aus dem Nichts aus vertrauten Behältern empor. Die alltäglichen Gegenstände wurden verfremdet und ihrer ursprünglichen Funktion entnommen: Sie verwandeln sich zu mystischen Dampfmaschinen im Ausstellungsraum. Dort hinterlassen die flüchtigen, poetischen Satzteile eine fast schon geisterhafte Präsenz, geprägt von Faszination und Unbehagen. Die dampfenden Orakel des Künstlers verkünden ihre Mantras repetitiv. Die Alltagsgegenstände werden zu spirituellen Klangkörpern, in denen die rätselhaften Botschaften auch noch nach ihrer materiellen Verflüchtigung nachhallen. Lahuis definiert die herrschenden physikalischen Begebenheiten neu, indem er alltägliche Objekte in geisterhafte Maschinen und aktuelle wissenschaftliche Publikationen in archäologische Funde verwandelt.
Paul Valentins Arbeiten existieren ebenfalls innerhalb eines eigenen Kosmos. In seinem digitalen Science-Fiction Universum “Formula” (2023 – fortlaufend) ist die Menschheit abwesend, ebenso wie eine klare zeitliche Verortung der Handlung. Die dystopische Landschaft wird von posthumanen Figuren und vertrauten Gegenständen bevölkert. Die vom Künstler kreierte Welt, die bereits als Grundlage für Arbeiten wie “Tacit Call“, “Dia In The Garden“ und “Naguali“ aus dem Jahr 2023 diente, wird in Valentins neuer Videoarbeit “CODA” erneut zum Austragungsort für naturwissenschaftliche und philosophische Überlegungen.
Drei Androiden in menschlicher Gestalt finden sich an einem weitläufigen, spärlich ausgeleuchteten Ort wieder. Der ebenmäßige Boden ist von einer niedrigen Wasserschicht sowie einem dichten, quadratischen Netz aus hellgrünen Laserstrahlen bedeckt. Die Szenerie erinnert an ein wissenschaftliches Experiment. Inmitten des technischen Versuchsaufbaus sind Richtmikrofone zu erkennen, die in regelmäßigem Abstand zueinander platziert wurden. Mit einer altertümlichen Querflöte ausgestattet, durchschreitet der Protagonist des Geschehens die Landschaft. Ein einzelner Ton erklingt – immer wieder. Das Wasser gerät in Schwingung, eine Schwingung, die nachhallt. Ein dichter Klangteppich legt sich über den Versuchsaufbau. Das sich wiederholende Ritual scheint ohne Anfang und Ende. Immer wieder fügt sich ein Ton in die präfigurative Komposition ein, die sich langsam zu einer kreisförmigen Verkettung aus Nachhall, Echo und Feedback entwickelt. Die Musik der Flöte findet in dem rituellen Versuchsaufbau Verwendung als Datensatz und kreiert geisterhafte Töne, die sich durch den Ausstellungsraum ziehen. Die im dunklen Meta-Raum agierenden Androiden scheinen auf den Spuren der Menschheit wandelnd nach neuen Erkenntnissen zu suchen. Ob sie sich dabei mit Albert Einsteins spukhafter Fernwirkung auseinandersetzen oder anderen Geheimnissen der Quantenphysik nachgehen, bleibt offen. In “CODA” fungieren die (Schall-)Wellen auf der Wasseroberfläche als Teil einer physikalischen Metapher. Das Lied des posthumanen Flötenspielers bewegt sich in einer vierdimensionalen Raumzeit, gefangen in den Interferenzen von Schallwellen und zeitlichen Schleifen.
Mit seiner Arbeit „Cinders of Sight I“ scheint es Paul Valentin gelungen zu sein, ein reales Objekt aus diesem digitalen Science-Fiction-Universum tatsächlich im Ausstellungsraum zu materialisieren. Zu sehen ist ein Gefäß, dessen Form an eine Urne oder eine Vase aus ägyptischen Ausgrabungen erinnert. Ebenso wie Lennart Lahuis Werkserie „MURMUR“ gibt „Cinders of Sight I“ eine verzerrte Wirklichkeit wieder. Die augenscheinlich stark glänzende Oberfläche der Vase kreiert die perfekte Illusion einer Spiegelung ihrer Umgebung. Bei näherer Betrachtung wird jedoch auch hier klar, dass nichts ist, wie es scheint. Anstatt der gewohnten Umgebung der Galerieräume ist das Abbild eines virtuellen Künstlerateliers zu erkennen. Dem holografischen Prinzip folgend versammelt die zweidimensionale, gekrümmte Oberfläche der Vase alle Informationen über den dreidimensionalen Raum, den die Besucher:innen nur erahnen können.
Anachronistisch und zugleich vertraut bewegen sich die Werke von Lennart Lahuis und Paul Valentin scheinbar losgelöst vom herrschenden Raumzeit-Kontinuum in neu konstruierten Wirklichkeiten. Die Künstler schaffen sich jeweils eigene Welten, in denen die gesetzten Parameter neue Zeitlichkeiten sowie physikalische und mediale Illusionen ermöglichen. Die aus der Zeit gefallenen Objekte erfahren als Spolien ein neues Dasein. Ihre entrückte Anwesenheit irritiert und lenkt den Blick der Besucher:innen auf das, was sich hinter Illusion verbirgt. Unterschiedliche technologische Epochen treffen aufeinander und lassen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in einer zirkulären Geschichtserzählung kollabieren.