„The world is not like us, it was imposed, we try to transform it“ sagt ein Protagonist der Videoarbeit Nadie es inocente [Niemand ist unschuldig] (1987) von Sarah Minter (1953-2016). Die Pionierin der mexikanischen Videokunst und des experimentellen Films ist bekannt für ihre Porträts marginalisierter Individuen und Gruppen in Mexiko. Die schonungslosen und gleichsam einfühlsamen Darstellungen kritisieren die soziale Ungleichheit in Mexiko, die mit den Implikationen der Kolonialgeschichte, die bis heute in der mexikanischen sowie anderen ehemals kolonisierten Gesellschaften nachwirken, verbunden ist. Die Gruppenausstellung „The world is not like us, it was imposed, we try to transform it“ widmet sich der gewaltsamen Auferlegung von bzw. dem Widerstand gegen westliche Identitätskonzepte, Wertvorstellungen und Auffassungen von Entwicklung, die als normativ definiert werden. Durch sie werden soziale Hierarchien konstruiert und reproduziert und es finden verschiedene Formen der Marginalisierung statt.
Die Ausstellung zeigt Zeichnungen, Skulpturen, Videos, Fotografien und Installationen von fünf internationalen Künstler*innen verschiedener Generationen, in denen der Körper Medium des Widerstands wird: die Gültigkeit patriarchaler und moderner Vorstellungswelten wird in Frage gestellt und der Zwang zur Anpassung und Unterordnung wird als körperlich und geistig gewaltvoller Prozess entlarvt – die Körper und ihre Subjekte wehren sich gegen die ihnen aufgetragenen Muster und Ideale und weisen Spuren dieser Einwirkung auf.
„Nadie es inocente [Niemand ist unschuldig]“ (1987) von Sarah Minter (1953-2016, Mexiko-Stadt) gibt einen Einblick in das Leben der Jugendlichen der Punkband Mierdas Punk, die in Nezahualcóyotl (informelle Siedlung der Metropole Mexiko-Stadt) leben. Die Dokufiktion strukturiert sich entlang der Erzählung Karas, der im Rückblick die Alltagserfahrung und die Visionen der Bandmitglieder kritisch reflektiert: Er erzählt vom Kampf gegen ein gesellschaftliches System, das von anderen beherrscht wird und von dem sie marginalisiert werden. Neza (ugs. für Nezahualcóyotl), wo die Jugendlichen leben gilt als Prototyp eines Stadtviertels, das sich aufgrund eines tiefgreifenden sozioökonomischen Wandels, ungeplant, angedockt an eine Großstadt entwickelt hat und erst nachträglich in deren Infrastruktur eingebunden wurde. Die Bedingungen der informellen Siedlungsstruktur, in der die Jugendlichen leben wird zur Metapher für die gesellschaftliche Realität, mit der sie in ihrem Erwachsenwerden konfrontiert sind. Die Geschichte der Jugendlichen wird zum Sinnbild einer Widerständigkeit gegen Wertvorstellungen und moderne Auffassungen von Entwicklung und Fortschritt, die Gesellschaften als erstrebenswert aufgedrängt werden und wodurch soziale Hierarchien konstruiert und reproduziert werden. In „Nadie es inocente – 20 años después [Niemand ist unschuldig – 20 Jahre später]“ (2010) rekonstruiert Minter die Spuren der Jugendlichen 20 Jahre später und spinnt eine neue visuelle Landkarte von Neza und den Lebensumständen ihrer Protagonist*innen. Sie reflektieren ihre Errungenschaften und Frustrationen in Kontrast zu den Hoffnungen und Träumen ihrer Jugend. In „Minueto [Menuett]“ (2010) tanzt der nun erwachsene Pablo „El Podrido“ Hernández (Protagonist von Nadie es inocente) in seinem einfachen und vollgestellten Wohnzimmer ein Ballettsolo. In „Nadie es inocente – 20 años después“ berichtet er, wie er im Ballett seine eigene Form fand, seinem Widerstand Ausdruck zu verleihen.
„Praying Arlequinos I, II, III“ (2020) von Karla Kaplun (*1993) ist eine Weiterführung der Werkgruppe „Acróbata Forze“ (seit 2019). In der Darstellung der als Bodybuilder*innen posierenden Figuren verbinden sich Referenzen zu den stilisierten Körpern des post-revolutionären, mexikanischen Sozialistischen Realismus mit der Theatralität des europäischen Barocks. Die ambiguen Körper treten als Harlekine in Erscheinung – die literarische Figur, die sich dem Zugriff gesellschaftlicher Normen und Zwängen entzieht und das Privileg nutzt, sagen zu dürfen, was anderen verwehrt ist und sich deshalb noch nie für die Vermittlung der „richtigen“ moralischen Grundsätze eignete. Kapluns anarchische Protagonist*innen scheinen dem beschränkenden Rahmen zu trotzen. Dieser wird so zur Metapher für ein System, das Subjekte anhand vorgefertigter Kategorien beurteilt bzw. ihnen diese aufzwängt. In dieser Kategorisierung und dem Zwang zur Assimilation liegt etwas zutiefst Gewaltvolles, da dadurch ein soziales Gefälle konstruiert und reproduziert wird. Kaplun thematisiert den Körper bzw. seine Darstellung als Medium des Widerstands gegen konventionelle Körperbilder und die Klassifizierung anhand gesellschaftlich konstruierter kultureller, geschlechtlicher oder ethnischer Kategorien.
Dieser Zwang zur Anpassung an eine Norm und die damit verbundene soziale Hierarchie ist auch Thema in der Arbeit „héxis“ (2019) von Berenice Olmedo (*1987). Sie besteht aus einer Schaumstoffbüste, die als Maßanfertigung für ein Skoliose-Korsett zur „Korrektur“ der Verkrümmung der Wirbelsäule gefertigt wurde. Der Torso ist von abgegossenen Kalibratoren eingespannt, die für die Vermessung des Körpers bzw. die Ermittlung der Abweichung von einer geltenden Norm verwendet werden. Die Büste stellt die Haltung dar, in die der als deviant erklärte Körper gebracht werden soll, um korrigiert zu werden. Olmedo bedient sich einer medizinischen Technik als Medium für eine kritische Auseinandersetzung mit Diskriminierung und Marginalisierung als symptomatisch für eine gesellschaftliche Tendenz der Normierung. „Behinderung“ wird als sozial konstruierte Kategorie verhandelt, vergleichbar mit Gender. Olmedo spricht somit nicht nur ein physisches Problem an, sondern ein politisches Thema – die Bedingungen einer Daseinsform und die gesellschaftlichen Zwänge, die es geschaffen haben.
Miguel Calderón (*1971) gilt als eine Schlüsselfigur der unabhängigen Kunstszene in Mexiko der 1990er-Jahre – er war u.a. Mitbegründer des bedeutenden nichtkommerziellen Kunstraum La Panadería (Mexiko-Stadt, 1994-2002). Zentrales Thema seines vielschichtigen Werkes ist das Ausloten von Machtverhältnissen, sowohl zwischenmenschlicher (oft familiärer) Beziehungen als auch zwischen verschiedenen Gruppen einer Gesellschaft. Er zeichnet satirische Portraits – immer in wertschätzender Hingabe für marginalisierte Figuren – der Klassengesellschaft Mexikos, die von starren Hierarchien bestimmt ist, wodurch Diskriminierung bis heute allgegenwärtig ist. Die in der Ausstellung gezeigten Arbeiten verhandeln diese Themen auf abstrakt formale Weise: „Marking Territory“ (1996) ist eine frühe Fotoserie, die hier erstmals überhaupt gezeigt wird. Sie ist Zeugnis eines jugendlichen Rituals unter Freunden. In den großformatig abgebildeten Knutschflecken kommt die Ambivalenz zum Ausdruck, die diesem Spiel innewohnt: unter dem Vorwand des jugendlichen Spiels verbirgt sich im Markieren des Körpers eine gewaltvolle Demonstration von Macht und Dominanz. „Socavón [Senkloch]“ (2020) ist eine Montage von ikonischen Sequenzen der typischen Fernsehberichterstattung von Senklöchern in Mexiko-Stadt. Senklöcher sind dort sehr verbreitet, da die Stadt auf einem von den spanischen Kolonisatoren stillgelegten Sees gebaut wurde und seither stetig Grundwasser entnommen wird, wodurch der Grund kontinuierlich ausgehöhlt wird. Die Oberfläche bricht ein und legt die darunterliegende, korrumpierte Infrastruktur frei – ein System, das im Dunkeln operiert und dazu dient, eine gesellschaftliche Ordnung „in Takt“ zu halten. „Vivimos en el hoyo“ [Wir leben im Loch] besagt eine umgangssprachliche, mexikanische Redewendung zur Beschreibung von Mexiko-Stadt. Darin drückt sich die Hilflosigkeit angesichts der korrupten und verworrenen Struktur der Lebensumstände in der Stadt aus.
Lucia Elena Průša (*1985) zeigt die konzeptuelle und ortsspezifische Installation „6. Know how to begin.“ (2020) bestehend aus fünf geliehenen Stühlen, die gemeinsam einen Kreis formen. Diese formale Anordnung im Raum impliziert eine demokratische Sozialstruktur, deren Subjekte in einer hierarchiefreien Beziehung zueinanderstehen. Gleichzeitig definiert ein Kreis immer auch eine Gruppe, durch die Zugehörigkeit und Ausschluss bestimmt ist. Průšas formale Anordnung, fordert den Besucher auf, sich zu dem Zirkel zu positionieren. Für die konzeptuelle Arbeit leiht sich Průša jeweils fünf Stühle einer ortsansässigen Beratungsstelle für männliche* Opfer und Täter psychischer, physischer und sexualisierter Formen von Gewalt – häusliche Gewalt (Partnerschaftsgewalt) und Straßengewalt. Für „6. Know how to begin.“ nutzt sie im Zeitraum vom 10. September-15. Oktober fünf Stühle des MIM (Münchner Informationszentrum für Männer e.V.) – das einzige, städtisch finanzierte Beratungs- und Therapiezentrum Münchens, das männliche* Opfer- und Täterarbeit leistet. Průša thematisiert dadurch den Stellenwert einer solchen Beratungsorganisation innerhalb der Gesellschaft. Sie setzt sich kritisch für eine proaktive Auseinandersetzung mit Gewalttaten in Familien und Beziehungen und der Aufarbeitung und Therapie von sowohl Opfern als auch Tätern ein. Die Ausübung von Gewalt ist immer Ausdruck von einem Austarieren von Machtverhältnissen. Sie ist symptomatisch für strukturelle Probleme in der Gesellschaft, basiert aber immer auf einer individuellen Entscheidung. Entsprechend liegt die Aufgabe in der Emanzipation.
Miguel Calderón (geb. in 1971, lebt und arbeitet in Mexiko-Stadt)
Karla Kaplun (geb. in 1993, lebt und arbeitet in Mexiko-Stadt)
Sarah Minter (1953-2016, lebte und arbeitete in Mexiko-Stadt)
Berenice Olmedo (geb. in 1987, lebt und arbeitet in Mexiko-Stadt)
Lucia Elena Průša (geb. in 1985, lebt und arbeitet in Wien)
Anna Goetz (geb. 1984) ist Kuratorin und Autorin mit einem besonderen Interesse an künstlerischen Strategien, die gesellschaftliche Hierarchien, Narrative und Strukturen in Frage stellen. Gegenwärtig arbeitet sie zwischen Frankfurt am Main und Mexiko-Stadt und forscht über konzeptuelle, kollektive und partizipatorische Praktiken im Mexiko der 70er-80er Jahre.