„The Rite of Spring“, der vierte und längste Teil von Disneys Fantasia, eröffnet mit dessen silhouettierten Dirigenten Leopold Stokowski, der in violett-blaues Licht getaucht in die Schwärze gestikuliert, aus der eine kosmologische Sequenzierung des Urknalls aufsteigt. Die darauffolgenden bewegten Bilder erzählen eine fantastische Darstellung der Expansion des Universums, die jedoch von den dirigierenden Armen Stokowskis umfasst wird, während er die aufbauende Energie von Igor Strawinskys Komposition vorantreibt. Vulkanausbrüche, mikroskopische Amöben, ambisexuelle Meeresbewohner und kämpfende Dinosaurier. ‚Naturgeschichte‘ wird entlang eines auf- und absteigenden Rhythmus von Schöpfung und Aussterben orchestriert, der durch eine anthropozentrische, kapitalistische Cartoon-Linse der Linearität und Klassifizierung erfasst und definiert wird. Stokowskis Gesten bergen in ihrer Bewegung die Allgegenwart eines unsichtbaren Schöpfers, des Eigentümers dieser Version und Vision von Raum und Zeit – unserer ‚Naturgeschichte‘.
In einem Raum der Ausstellung von Frances Drayson bei Britta Rettberg werden aus Carbon gefertigte Erscheinungen von Dinosaurierformen durch akribische Darstellungen von Knochen und Gewebe ins Leben gerufen. Ineinandergreifende Geometrien schweben auf der Oberfläche des Papiers, umgeben von den rauchigen Flecken des Restkohlenstoffs. Diese Körper haben Namen – „Donna“, „Jackie“, „Lucille“, „Nancy“, „Pattie“ und „Sandie“ (alle 2021). Sie könnten nach den Steinbrüchen benannt worden sein, in denen sie gefunden wurden, oder nach dem Landbesitzer, dem ihr Sedimentgrab gehört. Aber wie man in der gedruckten Karte, die in der Ausstellung zu finden ist, liest: „Das Geschlecht der Leiche ist nicht bekannt, sodass sie gemäß der hiesigen Tradition (Boote, Autos usw.) als weiblich angesehen wird“. Diese Lebensformen sind Behälter von Erinnerung; sie stellen eine viszerale und komplexe Verdichtung der Zeit dar, die sich über die geringen zerebralen Fähigkeiten des menschlichen Gehirns und seiner Kolonisierungslust hinaus erstreckt. Und doch erfordert ihre Entdeckung eine Klassifizierung (Art, Geschlecht, Abstammung usw.), um erkannt und sichtbar gemacht zu werden. Drayson lässt ihre Unordnung bestehen.
Der menschliche Drang, das Wiedersinnige, Chaotische und Ungeordnete zu synchronisieren und zu regulieren, beruht nicht nur auf dem Wunsch nach Kontrolle, sondern ist oftmals ein bloßer Bewältigungsmechanismus als Reaktion auf die Tatsache, dass unser tägliches Leben an ein koordiniertes Tempo des linearen Fortschritts gebunden ist und daran gemessen wird, beruhend auf Empfindungen von Geschwindigkeit und Überwältigung. Arbeit, Familie und Spiel sind in dieser zielgerichteten Bewegung miteinander verbunden, die durch den Mechanismus eines weiß-patriarchalisch-heterosexuell-kapitalistischen Paradigmas geformt und diktiert wird. Jede der Schichten, aus denen sich unsere Alltagserfahrung zusammensetzt, wird also durch eine konzertierte Verbreitung, Verstärkung und Kultivierung bestimmter Narrative, Identitäten und Codes angetrieben. Wenn man etwas tiefer gräbt, scheint es, dass die Machtstrukturen und -systeme, die Dinosaurier in einem Naturkundemuseum klassifizieren, auf einem zeitlichen Kontinuum mit den vielfältigen Möglichkeiten existieren, wie unsere menschlichen Subjektivitäten durch rechtliche, soziopolitische und biologische Rahmenbedingungen gegliedert und definiert werden. Wir sind nur Tiere, die versuchen (oder nicht versuchen), unserer eigenen Bedeutungslosigkeit und dem unerbittlichen Potenzial unseres eigenen Verschwindens zu widerstehen.
Auf der Suche nach neuen Klassifizierungsmöglichkeiten spricht Draysons Werk von dem Wunsch, sich den systemischen Strukturen zu widersetzen, die unserem Leben zugrunde liegen, und die psychologischen Prozesse hervorzuheben, die uns vorübergehende Fluchtwege bieten könnten. Die kartografischen Tafeln von „Plot of Land III“ (2021) sind vektorisierte Wiedergaben von Zeichnungen von Kontinenten und Superkontinenten der Großmutter von Frances Drayson. Die doppelten Linien, die von einer definierten Nachzeichnung bestehender Topografien zu einer eher freihändigen Unübersichtlichkeit übergehen, schneiden einen räumlichen Pfad in die Oberfläche von geschmierten MDF-Platten und kartographieren gleichzeitig die zeitliche Bewegung ihrer Urheberin. Was zum Vorschein kommt, ist die Instabilität dieser geografischen Formationen und ihre ständige Neuschöpfung im Laufe der Zeit. Michel Serres schreibt: „time does not always flow according to a line, nor according to a plan but, rather according to an extraordinary complex mixture, as though it reflected stopping points, ruptures, deep wells, chimneys or thunderous accelerations…a visible disorder“[1]. Die Entwicklung von Geschichte könnte dann dem ähneln, was die Chaostheorie beschreibt: eine Unordnung, die das Zusammenwachsen zeitlicher Rahmen – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – darstellt, die in einer amorphen Komplexität verschmelzen, die Muster, Verflechtungen, Wiederholungen und mehrfache Rückkopplungsschleifen vortäuscht. In der ‚sichtbaren Unordnung‘ von Draysons gezeichneten Karten oder der angehäuften Komposition von gewachsten Bronzeskulpturen, die neben den Dinosauriern aus Carbon platziert sind, kann ein eigenständiger Rhythmus entstehen.
In Wahrheit ist die zeitliche Erfahrung ebenso wenig kategorisierbar wie die chaotische Realität, einen Körper aufzuschneiden und zu versuchen, jedes Organ zu identifizieren. Wir stehen ständig im Dienst einer wissenschaftlichen und rechtlichen diagrammatischen Darstellung von Zeit und Raum, die unsere Realität durch einen kontrollierenden und oft gewaltsamen linearen Determinismus ordnet. Doch so wie wir uns dieser einschneidenden Kräfte in unserem kurzen Leben bewusst sind, so ist auch die Geschichte des menschlichen Verhaltens von dem immer wiederkehrenden Wunsch geprägt, ein ähnliches Maß an Dominanz über andere nicht-menschliche Lebensformen zu erlangen. In der Skulptur „If you cannot keep a rhythm how will you know when you are next fed? (for Dieter)“ (2019) wird durch das Motiv des Rindergitters aus Polymergips, von der Hand Draysons eingedrückt und gewellt, abstrakt auf die Bewegung von Nutztieren Bezug genommen. Das Gitter ist ein minimales landwirtschaftliches Mobiliar, das Bewegung hemmt und kontrolliert. Bei der Rotationsweidehaltung werden die Kühe häufig von einem Feld zum nächsten getrieben, um die Grasverschwendung und -verschlechterung zu verringern, was zu einer „besseren Grasnutzung, einer besseren Weidequalität und einem höheren Grasertrag“[2] führt. Diese Strukturierung der Existenz jeder Kuh durch ihre zyklische Bewegung auf den Feldern im Laufe eines Tages spricht von der grundlegenden Monotonie, mit der ihre Zeit in Übereinstimmung mit dem Auf- und Untergang der Sonne verwaltet wird, quantifiziert und optimiert für maximale Produktivität. In Anlehnung an Paolo Virnos Definition des Humankapitals handelt es sich um arbeitende Körper, die sowohl Produktivkraft als auch Produkt sind – genau wie wir. Man denke an die morgendlichen Pendlerströme auf den Bahnhöfen, die durch die Schranken geleitet werden und in den Autopiloten gleiten. Oder die Honigameise, auf die sich Draysons gleichnamige Skulptur bezieht, die sich an das Dach ihres Nestes klammert und als geschwollene Speisekammer für den Rest der Arbeiterinnen dient. Wir können der Tatsache nicht entkommen, dass wir gleichzeitig die Produzenten, die Produzierten und das Produkt selbst sind.
Anonymität, Gesichtslosigkeit, Depersonalisierung. Durch solche Strategien wird der Umgang mit menschlichen Körpern für diejenigen, die ihn ausüben oft erträglich. Die Profilbildung für Individuen auf der Grundlage von Geschlecht, Rasse, Alter usw. hängt von einem gleichzeitigen Entzug der eigenen Identität ab, damit sie in bestimmte Strukturen passen, die überwacht und konsumiert werden können. Und wer sind die Unternehmensdinosaurier, die diese rechtlichen und soziopolitischen Rahmenbedingungen verbreiten und aufrechterhalten? In Draysons Serie kleiner Collagen sind persönliche Bilder aus der Kindheit auf Fotoalbum-Trägerplatten geschichtet, die ein komprimiertes Sandwich verschiedener juristischer Dokumente über den Tod eines Familienmitglieds abdecken. Gerichte, Steuern, Versicherungen usw. – Themen, die von einem Jargon und einer sprachlichen Kälte durchdrungen sind, die völlig von einer Sprache der Verwandtschaft getrennt ist. Es sind Dokumente, die den Leser auffordern, den Amateurdetektiv zu spielen, eine perverse Erzählung von Extraktion und Dechiffrierung, auf die Drayson durch die Titel der einzelnen Werke subtil hinweist.
Vom Urknall zur Alltagsverwandschaft. Diese Ausdehnung der Zeit erstreckt sich in einer komplexen Konstellation, die gleichzeitig tiefgründig, widerspenstig, banal, bürokratisch, freudig und gewalttätig sein kann. Drayson lenkt unsere Aufmerksamkeit auf diese Eigenart, durch die Erzeugung eines Modus des Widerspruchs gegen die zeitlichen und räumlichen Bindungen, die unser Leben bestimmen, und die Klassifizierungen, die uns zu definieren versuchen. „History…is notable for its failure to address the question of the ontological, epistemic and political status of time”[3], schreibt Elizabeth Grosz. In diesem Scheitern lassen sich die Spuren alternativer Existenzbereiche erkennen, die sich der zwingenden Energie des Dirigenten widersetzen und diese ablehnen.
[1] Michel Serres und Bruno Latour, Auszüge aus Conversations on Science, Culture and Time, trans. Roxanne Lapidus (Michigan: University of Michigan Press, 1995), 56.
[2] ‘New Entrants to Farming: Rotational Grazing’, Farm Advisory Service < https://www.fas.scot/downloads/rotational-grazing/#:~:text=Rotational%20grazing%20is%20a%20great,it%20enables%20greater%20stocking%20densities.&text=Rotational%20grazing%20involves%20small%20field,a%20rest%20for%20the%20grass>
[3] Elizabeth Grosz, Becomings: Explorations in Time, Memory and Future (Ithaca: Cornell University Press, 1999), 2.
Joseph Constable ist Kurator, Autor und Produzent. Er war Associate Curator bei Serpentine Galleries London und ist heute Acting Head of Exhibitions im De La Warr Pavilion Sussex.