Various Others 2023
In Zusammenarbeit mit blank projects, Kapstadt
Zeit verrinnt, Zeit vergeht. Zeit steht still, Zeit dehnt und verdichtet sich. Sie als linear verlaufende Größe aufzufassen, entspricht der weitläufigsten Auffassung. Ihr entspricht die Kulturpraxis der Zeitmessung mit Uhren und Kalendern sowie eine Geschichtsschreibung in chronologischer Ordnung. Unser subjektives Empfinden begegnet der Zeit freilich völlig anders: Minuten können sich wie eine nie vergehen wollende Ewigkeit anfühlen und eine Stunde so rasch wie ein Wimpernschlag vergehen. Selbst der Eindruck von Zeitlosigkeit ist uns vertraut, etwa wenn wir versunken in Gedanken jegliches Gefühl für die Zeit verlieren.
River of Thoughts – so hat Lerato Shadi die Serie ihrer neuen Arbeiten betitelt. Der Fluss als Metapher für den Strom unserer Gedanken mag aufs erste Besehen einem gleichmäßigen und linearen Verständnis von Zeit entsprechen. Beim Blick auf die neuen Bilder wird hingegen ein anderes Bewusstsein deutlich. Mäandernde Linien queren die Leinwände und Papierbögen. Sie entpuppen sich als Schriftbänder, die die Künstlerin mit roten Markern direkt auf die Bildflächen aufträgt – und die für uns unentzifferbar bleiben. Ihre Schreibtechnik basiert auf sich überlagernden Schriftzeichen: Nachdem die Künstlerin die Buchstaben in erlernter Schreibweise von links nach rechts aufgetragen hat, spiegelt sie die Schrift und zeichnet sie in umgekehrter Form und Richtung erneut auf der gleichen Schriftspur nach. Die Buchstabenbänder ziehen Kreise und Schleifen, sie kreuzen sich, konzentrieren sich an einigen Stellen auf der Bildfläche, während andere Areale weitgehend unbeschrieben bleiben. Bieten sich hier nicht ganz andere Sinnbilder für die Zeit als das eines linearen Zeitflusses?
In einer zyklischen Auffassung von Zeit wird das wiederkehrende Moment wichtiger als das vergehende. Jeden Morgen geht erneut die Sonne auf, die Jahreszeiten kehren in gleicher Reihenfolge wieder und auf jede Ebbe folgt eine Flut. Vieles in der Natur ist in Kreisläufen organisiert, auch Aspekte unserer Körper und das Menschsein an sich. Unsere Geschichte aber versuchen wir meist linear zu erzählen. Auf ihren Bildern entwirft Lerato Shadi eine andere Form, die dafür plädiert, den Pfad der linearen Erzählung zu verlassen. Während des Schreibens, hier als performativer Akt aufgefasst, bewegt die Künstlerin sich fortwährend um die Bildfläche herum, wechselt die Blick- und Schreibrichtung. Begriffe wie Beginn oder Ende werden hier unwichtiger, die Perspektive spielt hingegen eine zusehends größere Rolle. Unterschiedliche Erzählstränge kreuzen sich und bilden stellenweise Verdichtungen, wie ein anschwellender und wieder abklingender Gesang. Dann wieder leere Flächen, wie unbeschriebene Felder der Erdgeschichte oder eine Stille um längst Vergessenes oder Verschwiegenes. Mehrere lose Anfänge und Enden finden sich auf der Fläche. Ein Kanon hat nicht nur einen einzigen Anfang, sondern viele. Theoretisch kann er unendlich gesungen werden – er ist der kreisförmige Gesang. Tsela di Matlapa hat Lerato Shadi diese Ausstellung genannt, nach einem südafrikanischen Volkslied, das in ihrer Familie oft gesungen wurde. Übersetzt würde es etwa „Es ist ein schwerer Weg“ bedeuten, aber das spielt eine ebenso untergeordnete Rolle wie der Inhalt jener Schrift, die nicht mehr zu lesen ist. Noch bevor wir die Bedeutung von Texten verstehen können, und auch wenn sie sich uns nie vollständig erschließt: Die Melodie sowie die Art des Gesangs transportieren eine eigene Bedeutungsebene, die unabhängig von Semantik bleibt.
Jede Schriftlinie, die Lerato Shadi hier auf die Bildfläche aufgetragen hat, hat sie ein zweites Mal – gespiegelt und rückwärts – erneut geschrieben. Der Gedanke einer Revision von Geschichten – und insbesondere von Geschichte – ist nicht neu, aber ungebrochen virulent. Erst langsam bildet sich im breiteren gesellschaftlichen Feld ein Bewusstsein dafür aus, Narrative im Hinblick auf ihre Erzählperspektive zu hinterfragen. Aus wessen Sicht sind Geschichtsbücher geschrieben? Wessen Geschichte wird dort aus welchem Blickwinkel erzählt? Wer schreibt und wer wird lediglich beschrieben, wer handelt und wer wird lediglich behandelt? Und wer fehlt? Lerato Shadi wirft hier auch eine Kritik an der Schriftform als Strategie der Wissens- und Geschichtsvermittlung auf. Texte haben ihre Tücken: Einmal niedergeschrieben lösen sie sich immer ein Stück von ihrer Autorschaft. In einem Feld, das Neutralität behauptet und nach Objektivität strebt, ist dieser Umstand problematisch: Ein Text bleibt immer eine subjektive Schilderung. Ein Bewusstsein dafür ist die Voraussetzung für kritisches Lesen und daraus folgend für selbständiges Denken und Schlussfolgern.
In ihrer Videoarbeit Mabogo Dinku, die hier ebenfalls zu sehen ist, steht eine andere Ausdrucksform im Zentrum. Mit ihren Händen formt die Künstlerin Gesten, begleitet vom Gesang eines südafrikanischen Volkslieds. Einige Gesten sind universell verständlich, andere lassen Spielraum für unterschiedliche Deutungen. Der Bildschirm teilt sich, und die sichtbaren Hände scheinen aufeinander zu reagieren. Eine Handlung entspinnt sich, und es bleibt offen, ob die eigene Interpretation der Gesten jener Erzählung entspricht, die von der Künstlerin intendiert war. Weder der Titel der Arbeit noch das Lied werden von ihr ins Englische oder in eine andere in Europa dominante Sprache übersetzt. Was auch als Kommentar auf die Marginalisierung der südafrikanischen Sprache während des Apartheid-Regimes und (darüber hinaus) gelesen werden kann, ist gleichzeitig ein universeller Verweis auf die Eigenheit von Kultur und Sprache, die weit über das Schriftsprachliche und rein Lexikalische hinausgeht. Eine Sprache ist geprägt von bestimmten Bildern, von eigenen Metaphern und Allegorien, die sich kulturell über lange Zeit ausgebildet haben und vor allem mündlich, in Erzählungen und Liedgut weitergetragen werden. Wird eine fremde Sprache und Schrift zum Primat, geht mehr als nur ein Vokabular verloren.
Im Überschreiben der Buchstaben, im Versuch, das bereits Geschriebene rückwärts noch einmal aufzufädeln, zeichnet sich der Versuch einer Revision ab. Können wir auf dem Pfad des Überlieferten noch einmal zurücklaufen und das Geschehene neu bewerten? Können wir den Geschichten neue Erzählungen – oder zumindest neue Perspektiven hinzufügen? Die Idee des „Unlearning“ ist ein Gedanke, der zurecht Konjunktur hat. Er meint das bewusste Verlernen internalisierter Strukturen, Hierarchien und Handlungsmuster. Diesem Verlernen geht eine intensive Bewusstmachung voraus: Welche Normen haben wir erlernt, welches Verhalten anerzogen bekommen und welchen Konventionen folgen wir unbewusst? Diese Fragen stellen sich im Hinblick auf die eigene Persönlichkeit ebenso wie für ganze Gesellschaften. Verlernen ist nicht dasselbe wie vergessen. Vielleicht ist es sogar das Gegenteil davon.