unbuntpunkt

Tom Früchtl, Simone Lanzenstiel, Florian Lechner, Sophia Pompéry 08 02 2019 – 22 03 2019

Die Gruppenausstellung „unbuntpunkt“ bringt vier künstlerische Positionen zusammen, die besonders das Interesse für Illusion, Licht und Raum vereint: Tom Früchtl, Simone Lanzenstiel, Florian Lechner und Sophia Pompéry. In Installationen und Skulpturen, Fotografien und malerischen Arbeiten legen die vier Künstlerinnen und Künstler ihr Augenmerk auf die Frage, wie sich die Wirkung alltäglicher Materialien und Situationen durch künstlerische Aneignung verändert. Die meist konzeptuellen, in ihrer Farbigkeit stark reduzierten Arbeiten überwinden kompositorische Bildgrenzen und hinterfragen alltägliche Sehgewohnheiten. Dafür nutzt jede Künstlerin und jeder Künstler seine eigene Strategie: Tom Früchtl hebt in seinen Arbeiten die Grenze zwischen Gegenstand und Abbild auf, Simone Lanzenstiel kreiert aus zerbrechlichen Materialien sensible Bildlandschaften, Florian Lechner komponiert Skulpturen und Installationen aus Licht und Schatten und Sophia Pompéry bringt in ihrer Kunst physikalische Gesetze ins Schwanken.

Die Ausstellung wurde von den Künstlerinnen und Künstlern selbst in Zusammenarbeit mit der Galerie Rettberg kuratiert. Der Titel der Ausstellung „unbuntpunkt“ bezieht sich auf den Weißpunkt, der beim Messen von Licht- und Farbwerten als Referenzpunkt verwendet wird. Auch im Verlauf des Schaffensprozesses und in der finalen Bildauswahl stimmten sich die Künstler aufeinander ab, wodurch ihre Arbeiten zu gegenseitigen Bezugspunkten wurden. Es entwickelte sich ein Gesamtkonzept, das sowohl thematisch als auch in ihrer künstlerischen Herangehensweise ineinandergreift.

 

Tom Früchtl beschäftigt sich in seiner Kunst mit konzeptuellen Fragen der Malerei, mit den Grenzen zwischen Gegenstand und Darstellung, Raum und Illusion, Verbergen und Abbilden. Dabei nutzt der Künstler bereits Vorhandenes, wie beispielsweise alltägliche Gebrauchsgegenstände, die sich wie von selbst in seinem Atelier sammeln oder ihm zufällig auf der Straße begegnen. Kartonagen in verschiedenen Größen, Verpackungsmaterialien oder Hartfaserplatten werden aus ihrem gewohnten Kontext gelöst und verfremdet, sodass sie zu minimalistischen Illusionen werden. Die Offensichtlichkeit wird zur künstlerischen Strategie: Indem Früchtl beispielsweise die Struktur ihrer Oberfläche bis ins kleinste Detail auf ihnen selbst malerisch abbildet, entziehen sich diese Objekte ihrer üblichen Funktion als industrielle Gebrauchsgegenstände. In dieser Übermalung geht es dem Künstler nicht darum, ihre Makel wegzuretuschieren, sondern um die Betonung des Unperfekten. Schmutzspuren, Risse, Falten oder Wasserflecken werden als zufällig entstandene Kompositionen in exakter Farbigkeit abgebildet. Sie werden zu ihren eigenen Spiegelbildern, während ihr reales Abbild hinter der offensichtlichen Täuschung verborgen bleibt. In der Arbeit „step by“ (2019, 105 x 68 cm, Öl auf beschichtete Hartfaserplatte) setzt Früchtl auf eine zuvor weiß bemalte Hartfaserplatte schwarze Punkte. Sie wirken zunächst wie ausgefranste Bohrlöcher, die in gleichmäßigen Abständen zueinander auf einer industriellen Lochplatte angebracht wurden. Mit simplen Effekten entsteht eine reine Trompe-l’œil Malerei.

Ähnlich der fließbandartigen Herstellung seiner industriellen Bildträger geht es Früchtl in seinen Arbeiten um den repetitiven Malprozess, der eine Eigendynamik entwickelt und den Kopf frei werden lässt. Dabei verzichtet er auf einen expressiven Pinselschwung und blendet die künstlerische Handschrift oft völlig aus. Die malerische Täuschung wird dadurch erst auf den zweiten Blick sichtbar. Manchmal gibt der Künstler seinen Betrachtern einen Hinweis, wenn beispielsweise Schatten anders verlaufen als es bei vorgegeben Lichtsituationen möglich ist. Doch auch wenn die Arbeiten zunächst als Readymade-Objekte anmuten, sind es immer Gemälde, die ihre eigene Bildsprache erzählen.

 

Sowohl in ihren Installationen, als auch in ihren malerischen Positionen arbeitet Simone Lanzenstiel besonders mit alltäglichen, geradezu zerbrechlichen Materialien. Aus Glasscherben, Papier, Holzlatten oder Klebebändern entstehen Poesien der Zerbrechlichkeit, welche von einer sensiblen, atmosphärischen Stimmung getragen werden. Im Zentrum der Installation „ein Hundertstel einer Sekunde“ (Glühbirne, Schnur, Umzugskarton, Spiegel- und Glasscherben, bemaltes Papier und Tapete, Aluminiumfolie, Klebebänder, Holzlatten und -rahmen, 3,20 x 2,30 x 1,70 m) liegen zerbrochene Spiegel am Boden, um die sich viele verschiedene Objekte versammeln, wie beispielsweise zerknüllte Alufolie, Glasscherben oder Tapetenreste. Sie werden begleitet von Holzrahmen und Latten sowie einem Arrangement aus Pappkartons, an dem ein großer Spiegel lehnt. Ihre Anordnung wirkt zufällig und flüchtig, als wären sie als ein Ganzes herabgefallen und in wenigen Augenblicken in viele einzelne Teile zersplittert. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich, mit welcher Präzision Lanzenstiel die zerbrechlichen Objekte auf dem Boden platzierte. Je nach Blickwinkel eröffnen sich dem Betrachter viele verschiedene Bildausschnitte, die er ohne die einzelnen Spiegelfragmente nicht sehen könnte, wie beispielsweise das reflektierende Strahlen einer Glühbirne, die sich über der Installation befindet. Die Künstlerin stellt in dieser Installation nicht nur eine Verbindung von Boden und Decke her, sondern fächert den Raum in viele verschiedene Spektren auf, multipliziert Blickperspektiven und Bildräumlichkeiten.

Neben dieser Arbeit zeigt die Künstlerin in der Galerie Rettberg neue Positionen auf Papier. In diesen greift sie die Materialität der Installation auf und lässt Malerei und Installation zu einer Symbiose verschmelzen. Neben Acryl verwendet sie beispielsweise Klebebänder, Papierschnipsel und Glasscherben, die sie entweder direkt auf dem Papier oder außerhalb seiner Bildgrenzen platziert. Begleitet wird diese objekthafte Malerei von einer kühlen, stark reduzierten bis verblassenden Farbigkeit, in der die Zerbrechlichkeit der Materialien verstärkt wird.

 

Florian Lechners Kunst reicht von zweidimensionalen Arbeiten, über freistehende Plastiken bis hin zu ortspezifischen Rauminterventionen. Mit wenigen Mitteln erreicht der Künstler eine Bildsprache aus Gegensätzen: Volumen und Leere, Bewegung und Statik, Transparenz und Undurchsichtigkeit. Sein Sujet ist der Raum. Er untersucht die Eigenschaften von Plastik und Skulptur und nutzt ihre Qualitäten gleichermaßen als Werkzeug und Material. Perspektive und Fläche, Texturen, Vorder- und Hintergrund werden verwendet, um plastische Qualitäten zu erzeugen und gleichermaßen zu unterlaufen. Zusammen mit Licht und Schatten, als Teil des künstlerischen Prozesses, verändern sie die Oberfläche der verwendeten Materialien, erzeugen Bildtiefe und erweitern seine Arbeiten in den Ausstellungsraum hinein. Elemente des Barock klingen hier auf minimalistische Weise an. Die Reduzierung der Farbigkeit auf Schwarz, Weiß und ihren Nuancen dazwischen ermöglicht ihm volle Konzentration auf Struktur, Fläche und Raum. Als Ausgangspunkt schafft der Künstler hierfür Bildräume entweder digital durch den Einsatz einer 3D-Software (Renderings) oder analog durch Schichtungen auf einen handelsüblichen Scanner. Im nächsten Schritt werden diese Materialien wiederum ausgedruckt, geschnitten, collagiert und aufgefaltet.

Für die Ausstellung „unbuntpunkt“ entstand ein installativer Eingriff, der sich über den gesamten Gang der Galerie bis in die angrenzenden Räume erstreckt. Durch den Einsatz von live gerenderten Projektionen und Farbe löst der Künstler die vorgefundene räumliche Situation bildhauerisch auf. Er modelliert, formt und schafft in dieser Transformation eine Erweiterung des Raumes virtueller Qualität. Immaterielle Erscheinungen werden zu realen Bildelementen. Sie befinden sich im Wandel und verändern ihre Gestalt, je nach Standpunkt und Lichteinfall. Neben dieser Installation zeigt Lechner minimalistische Raumcollagen, Reliefs und plastische Wandskulpturen, in denen die (Licht-) Komposition und Atmosphäre der Raumintervention aufgegriffen werden. In ihren feinen Farbnuancen zwischen Grau, Weiß und Schwarz erzeugen sie einen abstrakten Bildraum, der in seiner Vielschichtigkeit an Tiefe gewinnt. Lechners Werke existieren nur im Moment ihrer Wahrnehmung durch den Rezipienten. Losgelöst von ihrer physischen Beschaffenheit vereinen sie flächige und dreidimensionale Elemente und unterlaufen dadurch die Grenze zwischen Bild, Skulptur und Installation.

 

Sophia Pompérys künstlerische Arbeit wird zur wissenschaftlichen Praxis, in der sie physikalische Phänomene erforscht und deren allgemeine Gültigkeit in Frage stellt. Gleichzeitig nutzt die Künstlerin Illusion als künstlerisches Werkzeug, um genau diese Gesetzmäßigkeiten aus dem Gleichgewicht zu bringen. Oft sind es gewöhnliche Gebrauchsgegenstände mit denen Pompéry in ihren Fotografien, Installationen und Videos spielt. Sie streifen ihre Alltäglichkeit ab und stellen die Verlässlichkeit unserer Sehgewohnheiten auf die Probe. Die Wirkung ihrer Arbeiten hängt von den Assoziationen des Betrachters ab, der jedes Kunstwerk mit einem individuellen Erfahrungsschatz liest. Für ihre Arbeiten nutzt die Künstlerin ausschließlich physikalische Mittel. Auch die fotografische Serie „Stilles Wasser“ (2015, C-Print, jeweils 54 x 36 cm, Ed. 5 + 2 AP) ist ohne digitale Bildbearbeitung entstanden. Mit den Elementen Feuer und Wasser setzt sich die Künstlerin mit Wahrnehmungsfragen auseinander und beweist mit einfachen Gegenständen, wie beispielsweise Wassergläsern oder Kerzen, wie unverlässlich unsere Sehgewohnheiten sind. In einer subtilen und scharfsinnigen Bildsprache balancieren diese fotografischen Arbeiten zwischen Schweben und Herabfallen, Hell und Dunkel, Gegenstand und Illusion. Kerzen, die unbehelligt in Wassergläsern weiterbrennen, Lichter die falsche Schatten werfen oder ein Lampenschirm, der eigentlich eine Seifenblase ist. In ihrer reduzierten Farbigkeit und kühlen Lichtsituation strahlen die Bilder eine Unaufgeregheit aus. Fast beiläufig wirft die Künstlerin mit Alltagserscheinungen die großen Fragen des Lebens auf. Neben diesen Arbeiten zeigt Pompéry in der Ausstellung eine Auswahl aus der Serie „und Punkt“ (2013, Pigmentdruck auf Papier, 38 x 28 cm, Serie aus 15 Motiven). In diesen Fotografien sammelte die Künstlerin Schlusspunkte aus Liebesromanen von 1774 bis 2008, die sie durch ein OES-Mikroskop fotografierte. Kräuselungen und ungleichmäßige Farbverläufe, die über den Radius des Punktes hinausgehen, kommen in der mikroskopischen Vergrößerung zum Vorschein. Sie arbeitete dafür ausschließlich mit Erstausgaben von Schriftstellern und Dichtern wie beispielsweise Johann Wolfgang von Goethe, Theodor Storm, Botho Strauß oder Ingo Schulze. Trotz der technischen Reproduzierbarkeit wird in jedem Schlusspunkt seine typografische Individualität sichtbar.

Artists

Tom Früchtl

Simone Lanzenstiel

Florian Lechner

Sophia Pompéry